Svengali

Humoreske von Teo von Torn.
in: „Indiana-Tribüne” vom 21.01.1900


Die Probe war zu Ende. Die aus den verschiedensten „Verhältnissen” zusammenengagirte Sommertruppe der Frau Direktor Ehrlich ging auseinander — soweit nicht die im letzten Akt unbeschäftigten Darsteller und Darstellerinnen den muffigen Coulissenwinkeln der halbdunklen Bühne schon vorher entronnen waren.

„Da drinnen aber ist's fürchterlich!” citirte der Bonvivant, ein immer noch munterer Bühnenveteran, als er in die kleine, in's Freie führende Thüre trat und die helle freundliche Mittagssonne seine Platte bespiegelte.

„Gelt Schorling,” weanerte Seffa Helwig, des Saisontempels Naive hinter ihm, „an Prachtwetter, an wunderbares. Gehn ma auf'n Lugberg Nachmittag. Meinst net?”

„Nee Du,” erwiderte dieser, indem er sich den malträtirten Arm rieb und der ausrückenden kleinen Person, welcher man ihre zwölf Bühnenjahre wirklich noch nicht ansah, seine Rolle nachwarf, „ich kann mich beherrschen!” Und zu seinem Freunde Ebert, dem Kapellmeister, recte Klavierspieler, der ihn eben unterhakte, ergänzte er:

„Denk Dir die hinterlistige Jöhre an. Nicht blos, daß sie bei dem letzten Ausflug den ganzen Tag über ihr Portemonnaie vergessen hatte, ich hab' sie nachher auch noch einen Kilometer weit fast schleppen müssen, weil sie sich proppenfest auf einen Meilenstein gesetzt und „ihren Tod erwartet” hat. Dafür aber hat sie Abends auf der Reunion fein an der Table d'hote gegessen und dann wie blödsinnig getanzt. — Warte Du!” drohte er Fräulein Seffa, indem er seine Rolle aufhob und abermals zu einer komisch-wilden Schleuderbewegung ausholte, „wir steigen noch mal miteinander auf den Lugberg! Du hinterlistige Creatur!”

Die also Geschmähte drehte sich hellauflachend auf dem Absatz herum und setzte eben zu einer langen Nase ein, als ihr Blick auf einen anscheinend ganz neuen Badegast fiel, welcher aus der Kurpromenade in die das Theater umgebenden Anlagen einbog.

Die Herrschaften vom Theater kannten jeden Gast dieses kleinen Badeortes, gleichviel ob männlich, weiblich oder sächlich. Einmal waren es nicht viele, und dann bestand auch die vom Grafen Göden — dem Erbauer und Besitzer des Musentempels — geschaffene und geförderte Tradition einer regen gesellschaftlichen Beziehung zwischen den Kunstbeflissenen und Erholungsbedürftigen von Seltbrunn, dieser Perle seiner ehemals landesherrlichen, neunzackigen Krone.

Der Fremde kam langsam näher. Eine hochgewachsene, schlanke Gestalt, die durch ihren Cylinder in der Gesammtlänge allein schon etwas Uebernatürliches hatte. Dazu das ganze, unheimlich düstere Exterieur: er trug einen tadellosen, aber tiefschwarzen Rockanzug, selbst sein Schlips, seine Manschettenknöpfe, Handschuhe und Spazierstock waren schwarz. Das Unheimlichste an ihm aber war sein Gesicht, ein von tiefschwarzem Haar und Bart umrahmtes, wachsbleiches Antlitz, aus dem zwei dunkle, große Augen wie suchend über die Spaziergänger, die dicht besetzten Bänke und plaudernd herumstehenden Gruppen irrten.

Die kleine Hedwig, das augelassene enfant terrible der Gesellschaft, markirte eine Ohnmacht und taumelte mit geschlossenen Augen und schlenkernden Armen rücklings in eine collegiale Gruppe hinein, wo sie aufgefangen und mit einigen wohlgemeinten Püffen wieder so weit zum Leben gebracht wurde, daß sie hinter dem schützenden Busen der komischen Alten hervorflüstern konnte:

„Jessas, bin i derschrocken! Da schaut's hin! A wandelnde Lakrizenstang'n!”

„Weiß Gott!” raunte der „Vater”, „der Kerl sieht aus wie 'n Stück todte chinesische Tusche. — Wer kann das sein?”

Ja, wer kann das sein! Alle steckten die Köpfe zusammen und auch auf den Bänken wurde man aufmerksam, unterbrach das Lachen und Plaudern und staunte dem geheimnißvollen Fremden nach, der da in der hellen Mittagssonne wie ein aus der Façon gekommenes, menschgewordenes Brikett dem zur Bühne führenden Seiteneingange des Theaters zustrebte.

Nach ein, zwei Minuten trat er wieder heraus und verschwand auf einem, in's freie Feld führenden Seitenwege.

Bald darauf kam Klienke, der Theaterdiener heraus. In der Linken einen Brief und in der Rechten ein schmunzelnd beäugtes Geldstück, das nach dem freudigen Abglanz auf der blaurothen „Gurke” des Allerwelt-Faktotums mindestens ein Thaler sein mußte. Mit einer breiten behaglichen Bewegung schob er die Münze in die Westentasche, hob den Brief hoch und krähte, mit den verquollenen Aeuglein unter der auf ihn einstürmenden Künstlerschaar suchend:

„Fräulein von Langenau — ein Brief für Fräulein von Langenau!”

Das war nun indiskret und wohl nicht im Sinne seines Auftraggebers, aber das berührte seine harmlose, alkoholfreudige Seele nicht. Ihm kam es nur darauf an, sich seines Auftrages und dann der Scenerie zum ersten Akt „Wilde Katze” zu entledigen, um dann wieder den üblichen Trost zu suchen für seine, aus dem Künstlerischen in's „Statistische” und von da auf den Schnürboden verschobene, nicht so hoffnungsstolze Karriere.

„Die Langenau?” — „Ja wo steckt die denn eigentlich?” — „Auf der Probe war sie auch nicht!” — „Die kann sich eben alles erlauben!” schwirrte es in dem nun auseinandergehenden Völkchen. „Aber da —!” — „Richtig, da kommt ja eben das Fräulein Baroneß!” — „Und den Strela hat sie natürlich wieder am Bändel.” — „Was da noch 'rausbratet!”

„Schandmäuler seid's alle!” rief die kleine Helwig, indem sie der Freundin entgegenlief und ihr den Brief aushändigte. „Da, Lizzie, das ist eben für Dich abgegeben. 'S ist 'was Rares!” — „Aber Sie brauchen nicht so bös zu schauen, Herr von Strela,” wandte sie sich an den Begleiter ihrer reizenden Collegin, „der Mann, der das geschrieben hat, ist todt, mindestens scheintodt und eben zu seiner eigenen Leich' gegangen.”

Assessor Kurt von Strela lachte. Was konnte das auch Schlimmes sein!? Der Liebe seiner jungen geistvollen, bildschönen Braut — denn das war sie seit vorhin, da sie seine ernste, ehrlich gemeinte Werbung nicht zurückgewiesen; — ihrer Liebe also war er sicher; und an der Treue war bei diesem stolz reservirten, aus bester Familie stammenden, grundsatzfesten Mädchen erst recht nicht zu zweifeln. — Er schlug also lachend in die ihm gebotene Patschhand der Helwig ein, und sein offenes, von einem blonden „Es ist erreicht” keck pointirtes Kavaliersgesicht strahlte ordentlich, als er ihr mit gemachter Heimthuerei in's Ohr tuschelte:

„Heut' Abend gibt's 'ne Erdbeer-Bowle in der Pension — und 'was ganz Neues dazu, Fräulein Seffa!”

„Gengans — is möglich?! Na aber konnt's mir aa schon denken —” sagte sie herzlich und erfreut und ihm die Hand schüttelnd, „dafür aber kriegt die Lizzie an umso lauteren — —”

„Jessas, Maria'n, Josef! Was hast?” schreckte sie dann vor der Freundin zurück, die gesenkten Hauptes, bleich und mit bebenden Lippen vor sich hinstarrte.

Auf die Anrede barg diese den Brief in die Tasche.

„Nichts —, bitte, lassen Sie mich —” wehrte sie auf die besorgten Fragen auch des Assessors ab und wandte sich zum Gehen. Sein verstörter, schmerzerfüllter Blick brannte ihr aber auf der Seele, und sie reichte ihm mit einer müden Bewegung ihr eiskaltes Händchen.

„Verzeih! — ich sagte „Sie” — aber — — es muß auch jetzt so sein. — Ich — ich darf nicht —”

*           *           *

Dreimal, und jedesmal dringender hatte der Assessor im Laufe des Nachmittags bei seiner Braut sich anmelden lassen. Immer vergeblich. Zuletzt hatte die Pensionsmutter ihm bestellt, daß Fräulein von Langenau ihn heute keinesfalls empfangen könne. Sie würde ihm morgen Nachricht geben.

Strela war in tiefer Erregung und Unruhe. Die kleine Helwig hatte ihm die Persönlichkeit des Briefschreibers geschildert. Auch er kannte ihn nicht. Trotzdem er an Lizzie glaubte wie an seine eigene Schwester, marterten ihn doch tausend Gedanken und Möglichkeiten. Es mußte doch etwas Besonderes und Schreckliches sein; denn weshalb sprach sie sich nicht aus, die doch sonst so offen war! Also morgen! Er mußte seine Angst und die Pein der Ungewißheit bis dahin niederringen. Um ihr nicht lästig zu fallen, sah er auch von seiner ursprünglichen Vornahme ab, an sie heranzutreten, wenn sie zur Vorstellung ging.

Er machte Abends noch einen weiten friedlosen Spaziergang und betrat daher seine Loge im Theater erst, nachdem die Vorstellung längst begonnen hatte. Es lag eine sonderbar zerstreute Stimmung über dem kleinen Zuschauerraum und auf der Bühne. Die Aufmerksamkeit des Hauses war getheilt zwischen den scenischen Vorgängen und einer der gegenüberliegenden Logen, aus welcher ein schwarz­gekleideter Herr seine unheimlichen Augen starr auf die Bühne gerichtet hielt. Fast alle Akteure schienen bereits davon nervös geworden.

„Fräulein von Langenau,” referirte der Nachbar des Assessors, ein Berliner Journalist,leise, „ist schon wiederholt aus dem Concept gekommen durch diesen gräßlichen Kerl, diesen lauernden Svengali da drüben.”

In Wahrheit: Svengali! Der Assessor sah prüfend hinüber und — konnte sich selbst eines unheimlichen Gefühls nicht erwehren. Das wich aber sofrt hellaufloderndem Zorn, als Lizzie Langenau, welche eben wieder aufgetreten war, nach einem magnetisch auf den Fremden gezogenen angstvollen Blicke, gleich bei den ersten Auftrittsworten stockte, dann völlig den Faden verlor und schließlich aufschluchzend die Hände vor das Gesicht schlug.

Der Vorhang mußte fallen.

Im Zuschauerraum herrschte unbeschreibliche Erregung. Was war denn nur geschehen?! Man sprach lebhaft durcheinander. Die meisten Köpfe waren dem Fremden zugewandt, der sich eben ruhig in seiner ganzen Länge erhob, als ginge ihn die Geschichte nicht im mindesten an.

Der Assessor war aufgesprungen und unten auf dem Platze vor dem Theater trat er dem Svengali gegenüber.

„Ihre Karte, bitte!” stieß er hervor, indem er den Hut lüftete.

„Uoßu?” antwortete dieser in breitem englischem Accent und ohne mit der Wimper zu zucken, „mein Kart ßein nur for die Ladies.”

„Das eben wünsche ich Ihnen abzugewöhnen, mein Herr!” brauste der Assessor auf und trat dicht an ihn heran. „Wollen Sie mir Ihre Karte geben oder nicht?”

„Well —” fügte sich der Fremde, indem er in seine Brusttasche griff, „uenn Sie vielleicht haben ein Braut oder Schwester — — — — — — — —”

Damit übergab er Herrn von Strela eine Karte ziemlich großen Formats, berührte seine Hutkrempe mit der schwarzbehandschuhten Rechten und verschwand im Abenddunkel.

Der Assessor führte die Karte dicht an die Augen und las:

Henry M. Fowler,
Merchant-Tailor.

*           *           *

„Lizzie —”

In einer Laube vor ihrer Wohnung saß Frl. v. Langenau und lächelte den ihr gegenübersitzenden Assessor unter Thränen an.

„Lizzie — sag, weshalb hast Du Dich mir denn nicht anvertraut?”

„Wie konnte ich denn!” seufzte sie nachschluchzend auf. „Ich bin Schauspielerin; und — ich bin auch immer ausgekommen bis jetzt — blos die theuren Toiletten zu Fedora — das konnte ich nicht gleich, und — — ich mag auch nicht, daß Du — —! Ich will nicht!” rief sie erregt.

Einen Augenblick streichelte der Assessor wie rathlos das Blondköpfchen seiner Braut, dann aber kam ihm ein erleuchteter Gedanke.

„Weißt, Lizzie,” rief er, „ich hab's! Wir lassen die unheimliche Schneiderseele warten, bis ich alles zahlen darf — für meine süße kleine Frau! Gelt?”

Von der Antwort haben selbst die Buschrosen nichts gehört, welche dicht bei der Laube durch das Geißblatt lugten — aber gesehen haben sie etwas, das ein Rosenherz immer erfreut, — und sie dufteten noch einmal so süß in den lauen schweigsamen Abend.

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